Riesenmaschine

06.10.2005 | 16:53 | Papierrascheln

New Economy anno 68


(Dieses Bild wurde vorsichtshalber entfernt und taucht wieder auf, sobald sich die Autorin oder der Autor um die Klärung der Bildrechte gekümmert hat.)
Auch vor 1995 gab es bereits eine New Economy. Die weltweite Pop-Revolution um das Jahr 1968 bedeutete einen bis heute nachwirkenden Paradigmenwechsel, der mit dem Internetboom in gewisser Weise nur eine Neuauflage erlebte. Auch damals entstanden aus einer nerdigen Subkultur neue soziale Praktiken und ein neues Lebensgefühl mit Massenappeal. Auch damals begriffen irgendwann selbst die Spiesser der alten Wirtschaft, dass da etwas vor sich ging, von dem sie zwar keine Ahnung hatten, dessen sie sich aber tunlichst bedienen sollten, wenn sie nicht ins Abseits rutschen wollten. Auch damals gab es an der Schnittstelle plötzlich neue Akteure und Unternehmungen, die als idealistische Zirkel starteten und als schnöde Betriebe endeten. In "Das Geschäftsjahr 68/96" (Suhrkamp, 2005) beschreibt Bernd Cailloux aus der Binnenperspektive und cum ira et studio so ein Unternehmen in seiner entscheidenden Umbruchphase. Die Musse-Gesellschaft beginnt als eine Art Kunst-und-Technik-Kollektiv, das mit grellen Lichtinstallationen helfen will, die psychedelische Revolution in die bundesrepublikanischen Metropolen zu tragen. Auch die Düsseldorfer "Beuys-Boys" haben ihre Finger im Spiel – das ganze soll mehr soziale Plastik sein als ordentliche Firma. Als mit dem Stroboskop mit einem neuen entfesselten Tanzstil gleichzeitig ein marktgängiges Produkt erfunden wird, das nicht zuletzt Werbefuzzis begeistert, wird das Kollektiv nolens volens zu einem unkonventionellen Start-up. Während einige Beteiligten der ersten Stunde inklusive des Erzählers sich in Drogenexperimenten verlieren, reisst sich einer den Laden unter den Nagel, der inzwischen auch Lichtinstallationen für den Messestand der vereinigten Futtermittelhersteller auf der ANUGA massschneidert ...

Das alles, den auf realen Gegebenheiten beruhenden unternehmerischen Aufstieg und den ebenso realen privaten Niedergang beschreibt Cailloux mit einer lakonischen Nüchternheit und schonungslosen Schnoddrigkeit, die vielleicht am ehesten an Jörg Schröder in "Siegfried" erinnert. Dies zumal, da es auch hier um den weniger ausgedacht als vielmehr bewundernswert rekonstruierten Aufstieg und Fall eines Bohème-Unternehmers unterm Pop-Paradigma ging. Die authentische Schilderung der Szenen und der kontrastierenden Welt der Mittelständler mit Pepitahütchen in der Bundesrepublik um 1968, über die der Pop nicht wie eine Welle schwappte, sondern punktuell einsickerte, macht das Buch zu einem der besten zum Thema und mal wieder zu einem Pop-Roman im Suhrkamp-Sortiment, der den Namen verdient. Der Fokus auf die Firmengeschichte, die gruppeninternen Mechanismen und die Psychodynamik macht es zu einem hervorragenden Buch über die New Economy.


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